Der Taktikexperte analysiert für Sportakademie 24 die Spiele der EM2016, wir befragten ihn zu seinen taktischen Erwartungen für die EM2016, wer seine Favoriten sind und was seine Ideen für die Zukunft sind.
Sportakademie 24: Hallo Steven, danke, dass du die Zeit gefunden hast mit uns ein Interview zu führen. Seit über einem Jahr bist du Autor im Institut für Jugendfußball, hast zahlreiche Bücher und Seminare gestaltet. Der Beginn machte deine Bachelorarbeit, in der du die WM 2014 analysiert hast. Was erwartest du für das anstehende Turnier in Frankreich?
Steven Turek: Ich gehe davon aus, dass gerade Mannschaften mit geringerer individueller Qualität sich auf eine sichere Defensive, ggf. auch mit einer 5er Kette verlassen werden. Die vermeidlichen Spitzenmannschaften sind dann gefragt Antworten zu finden.
Sportakademie 24: Wie könnten diese Antworten aussehen?
Steven Turek: Das hängt natürlich von der Qualität der einzelnen Mannschaften ab. Unterschiedliche Mannschaften haben unterschiedliche „Waffen“ zur Verfügung. Nimmt man einmal die Bundesliga als Beispiel, hat Bayern München gerade im letzten halben Jahr sehr effektive Lösungen gegen 5er Ketten gefunden. Sie haben phasenweise darauf verzichtet, Lewandowski zwischen die Ketten zu holen und ihn in vorderster Front zwischen den drei Innenverteidiger belassen. Andere Spieler aus dem Zentrum oder aus den Außenpositionen haben sich dann zwischen die Ketten begeben. Vielleicht sehen wir ähnliches bei der Euro. Umgekehrt hatte dies auch den Vorteil, dass bei einem Ballverlust in vorderster Front (also beim 9er) die Staffelung für ein mögliches Gegenpressing deutlich verbessert war. Gegenpressing als Mechanismus Konter zu verhindern oder ggf. auch selber Torchancen herauszuspielen, das erwarte ich gerade in diesen „David gegen Goliath“ Spielen.
Sportakademie 24: Du hast „David gegen Goliath“ angesprochen. Wer sind denn für dich die „Goliaths“ dieser EM?
Steven Turek: Zu allererst gehört Deutschland als amtierender Weltmeister zum Favoritenkreis. Ich glaube, dass wir konstant funktionierende Mechanismen haben, Tore zu verhindern und zu erzielen. Dazu haben wir im Vergleich zu WM noch ein paar Spezialisten wie Gomez und Kimmich dazugewonnen, mit denen unser Bundestrainer relativ schnell einen Spielstil umstellen und anpassen kann. Variabilität ist insgesamt eine unserer Stärken.
Dann gehört natürlich der Gastgeber Frankreich zu den Spitzenmannschaften – und das nicht nur wegen des Heimvorteils! Bereits vor 2 Jahren hat Frankreich eines der besten Positionsspiele gezeigt. Darüber hinaus haben sie besondere Spieler wie Pogba und Griezmann, die sowohl in Ballbesitz als auch im Schalten unheimlich wertvoll sein können.
Eine weitere Mannschaft, die bereit vor 2 Jahren für Furore gesorgt hat, war Belgien. Bei der WM haben sie konsequent ein 4:2:3:1 mit starken offensiven Außenspielern (Hazard, De Bruyne etc.) gezeigt. Die Spielweise und Taktik war klassisch auf Dribblings nach innen (für Steckbälle und den eigenen Abschluss) oder außen (für Flanken auf Lukaku) ausgelegt. Passend dazu gab es späte Spielverlagerungen. Wirklich gefährlich (und übrigens auch erfolgreich) war Belgien aber besonders im Umschaltverhalten. Gerade die Qualität von De Bruyne Räume zu erkennen und/oder zu belaufen ist was unheimlich Besonderes. Auf Belgien bin ich gespannt.
Sportakademie 24: Du hast Variabilität als Stichwort genannt. Viele Mannschaften stellen inzwischen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb von Spielen ihre Taktik um. Ist das eine Qualität, die notwendig ist, um den Titel zu holen?
Steven Turek: Es erhöht zumindest die Chancen. Es geht dabei auch nicht darum, einfach umstellen zu können, sondern die richtige Umstellung als Antwort auf das gegnerische Verhalten zu wählen – das ist dann „Trainerhandwerk“ und ganz wichtig auch Vorbereitung. Gerade bei einem Turnier muss das Trainerteam auf wirklich alles vorbereitet sein. Erinnern wir uns an die Niederlande vor 2 Jahren: Da war Van Gaal bis ins letzte Detail auch auf ein Elfmeterschießen vorbereitet. Er wechselte in letzter Minute seinen Torwart ein, den er geeigneter hielt, das Elfmeterschießen erfolgreich zu gestalten. Gerade in K.O. Spielen werden die Aufgaben noch breiter, weil Dinge wie „Wechselmanagement“ oder eben Verlängerungen oder Elfmeterschießen hinzukommen. Dazu gehört auch, dass man weiß, was man tut, wenn zum Beispiel ein Außenspieler sich in der 20. Minute verletzt. Wie wird dann gewechselt? Wie ändert sich das Spiel? Wie passt das zum Gegner? Wir merken: Vorbereitung ist wirklich alles. Auch deswegen glaube ich, dass wir in Deutschland optimistisch sein können, weil wir einen Trainer haben, der genau das bereits nachgewiesen hat.
Sportakademie 24: Kommen wir von einer großen Trainerkarriere zu deiner (vielleicht großen 😉 ) Trainerkarriere. Du hast deine A-Lizenz bereits mit 22 Jahren und Top – Noten abgeschlossen. Du gibst Fortbildungen beim Bund Deutscher Fußball-Lehrer, studierst Sport im Master und hast zahlreiche interessante Hefte geschrieben. Soll die Reise nicht in den professionellen Fußball gehen?
Steven Turek: Das muss natürlich das Ziel sein, Trainer in einem Nachwuchsleistungszentrum oder Assistent im Seniorenbereich zu werden. Diese Aufgaben werden einem allerdings gegeben, man kann sie sich nicht nehmen und nicht einfordern. Das wichtigste für mich ist es, an mir und meinen Fähigkeiten weiter zu arbeiten, und wenn es dann der richtige Moment und der richtige Verein ist, dann hat sich die Arbeit ein Stück weit gelohnt.
Sportakademie 24: Vielen Dank für die spannenden Eindrücke in deine Arbeit! Zum Schluss, du analysierst für uns einzelne Spiele der EM. Wann geht’s los und was dürfen wir erwarten?
Steven Turek: Absolut perfekte Analysen natürlich (lacht). Aber Spaß bei Seite. Ich gucke mir die Spiele an und beschreibe dann im Nachgang, was mir daran aufgefallen ist. Jedes Spiel ist anders und hat andere Elemente und andere Besonderheiten, das versuche ich aus meiner Sicht abzubilden. Starten werde ich mit dem ersten Spiel von Deutschland am Sonntag. Danke für die Zeit und Fragen.
Informationen zum Autor Steven Turek:
Von der Bachelorarbeit zum Taktikexperten
Der Fußballtrainer und Masterstudent Steven Turek beschäftigte sich während seines Bachelorstudiums im Rahmen eines groß angelegten Projekts mit unterschiedlichen Spielphilosophien im Profifußball.
Seine Abschlussarbeit widmete er dem Thema „Analyse der Fußballweltmeisterschaft 2014 im Hinblick auf das Herausspielen von Torchancen“ (zusammen mit Jonas Stephan).
Seine erworbenen Kenntnisse aus unzähligen Trainingseinheit, Beobachtungen, sowie Aus- und Fortbildungen (u.a. UEFA – A – Lizenz) versucht er nun in Zusammenarbeit mit Sportakademie24 weiterzugeben.
Sein erstes Buch zum Thema „Erfolgreich Passwege Öffnen und Nutzen“ schrieb er zusammen mit dem Taktik – Experten und DFB Ausbilder Ralf Peter.
Seminarreihe zum Thema „Passwege öffnen und nutzen“
Mit der gleichnamigen Seminarreihe schafft der ambitionierte Nachwuchstrainer die perfekte Kombination aus Theorie und Praxis.